Dr. Annette Junker - Medizinjournalistin, Medical Management - page 3

zelstaatlichen Rechtsvorschriften und
Gepflogenheiten. Bei der Festlegung und
Durchführung der Politik und Maßnah-
men der Union in allen Bereichen wird
ein hohes Gesundheitsschutzniveau si-
chergestellt“, – so lautet Artikel?35 der
Charta der Grundrechte der Europäi-
schen Union. Vor diesem Hintergrund
analysierte eine deskriptive Studie den
Zusammenhang zwischen Gesundheits-
ausgaben in den 27 Mitgliedsstaaten der
EU und der Krebsinzidenz und -ster-
blichkeit. Sie zeigt, dass die Krebsmortali-
tät umso geringer ist, je mehr vomBrutto-
inlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung
in Gesundheit investiert wird [3].
Die Analyse stützt sich auf Daten der
Weltgesundheitsorganisation, des Inter-
nationalen Währungsfond und der Welt-
bank. Während die Bevölkerung in West-
europa mit ca. 400 Mio. Einwohnern un-
gefähr 4-mal größer ist als die Osteuro-
pas, beträgt deren Bruttoinlandsprodukt
das 10-Fache. Auch die Investitionen in
Gesundheit sind in Westeuropa deutlich
höher. Zwischen demPro-Kopf-Bruttoin-
landsprodukt und der Pro-Kopf-Ressour-
cenallokation für Gesundheit besteht ein
direkter Zusammenhang. Weiterhin zeig-
te sich in Westeuropa eine höhere Krebs-
inzidenz, aber eine geringere Krebsmor-
talität als in Osteuropa – besonders deut-
lich für Brustkrebs. Wo jährlich weniger
als 2000 $ pro Kopf für Gesundheit ausge-
geben wird, wie in Rumänien, Polen und
Ungarn, beträgt die krebsspezifischeMor-
talität rund 60%, bei Ausgaben zwischen
2500 und 3500 $, wie in Portugal, Spanien
und Großbritannien, ca. 40–50%. Und in
Ländern wie Frankreich, Deutschland
und Belgien mit über 4000 $ Pro-Kopf-
Ausgaben liegt sie unter 40%. Die höhe-
ren Krebsinzidenzen in Westeuropa füh-
ren die Autoren u.?a. auf die intensiver
durchgeführten Screenings zurück.
Tumorscreening
Klarer Vorteil für Darmspiegelung
und Okkultbluttest
Ein systematisches Screening auf Krebs-
erkrankungen hat unterschiedliche Er-
folgsgeschichten. Als belegt gilt der Nut-
zen für Brustkrebs [4]. Auch für kolorek-
tale Karzinome erhärtet sich die Daten-
lage zunehmend: Sowohl Screening mit
dem Okkultbluttest als auch mit Endo-
skopie konnten in randomisierten Stu-
dien eine Senkung der Mortalität zeigen.
Eine auf dem Kongress vorgestellte Stu-
die ging der Frage nach, ob und wie Ver-
änderungen der Sterblichkeit durch kolo-
rektale Karzinome mit einem Screening
in Zusammenhang stehen [5]. Aus dem
in 11 europäischen Ländern durchgeführ-
ten SHARE-Projekt (Survey of Health,
Ageing, and Retirement in Europe) wur-
den Daten zum Screening mit FOBT und
Endoskopie bei Männern und Frauen ab
50?Jahren extrahiert undmit der Todesur-
sachendatenbank der WHO von 1989 bis
2010 abgeglichen.
Die Ergebnisse waren eindeutig: Je
mehr Menschen in einem Land an einem
Screening teilgenommen hatten, des-
to stärker war die Mortalität durch ko-
lorektale Karzinome zurückgegangen. In
Österreich z. B., wo in dem betrachte-
ten Zeitraum 61% der Bevölkerung mit
FOBT gescreent worden war und 35%
mindestens einmal eine endoskopische
Untersuchung des Dickdarms durchfüh-
ren ließen, sank sie um 39% bei Män-
nern und um 47% bei Frauen. Im Ver-
gleich dazu wurden im gleichen Zeitraum
in Griechenland nur 8% der Männer en-
doskopiert, und die spezifische Mortali-
tät stieg hier im Untersuchungszeitraum
um 30%. Insgesamt lässt sich der Analy-
se zufolge der Rückgang der Mortalität
durch kolorektale Karzinome zum größ-
ten Teil auf die Durchführung mindes-
tens einer endoskopischen Untersuchung
oder Okkultblutuntersuchung in den letz-
ten 10?Jahren zurückführen – für die En-
doskopie 73% bei Männern und 82% bei
Frauen. Die Evidenz könne nicht deutli-
cher sein, fasste Philippe Autier, Lyon, für
die Autoren zusammen. Sie sprechen klar
für ein organisiertes Darmkrebsscreening.
Überwiegend Nachteile
für PSA-Test
Anders sieht es für das Screening auf Pros-
tatakrebs mit dem PSA-Test aus. Seit Mai
2013 empfiehlt die amerikanische Urolo-
gie-Gesellschaft das routinemäßige PSA-
Screening nicht mehr. In Frankreich ist
es allerdings nach wie vor weit verbreitet:
Über die Hälfte der Männer zwischen 50
und 60 erhalten jährlich einen PSA-Test,
über 75% alle 3?Jahre.
Dies war für Paul Perrin, Lyon, und
Kollegen Grund genug, die Sinnhaftig-
keit dieser Maßnahme erneut zu hinter-
fragen und eine Nutzen-Schaden-Rech-
nung aufzustellen. Sie übertrugen die Er-
gebnisse einer systematischen Literatur-
analyse zu Ergebnissen des PSA-Scree-
nings, Biopsieraten sowie Komplika-
tionsraten nach Biopsie und tumorspe-
zifischer Therapie sowie die Ergebnisse
der europäischen Studie zum PSA-Scree-
ning (ERSPC) hinsichtlich der Mortalität
auf ein virtuelles Kollektiv: jeweils 1000
Männer mit und ohne regelmäßige PSA-
Tests. Bei den gescreenten Männern wür-
den danach 270 vs. 116 Biopsien durch-
geführt und 96 vs. 60 Prostatakarzinome
diagnostiziert. Bei gleicher Gesamtmorta-
lität wären 4 vs. 5 Todesfälle durch Pros-
tatakrebs zu verzeichnen. Dieses eine ge-
rettete Leben würde durch 154 zusätzliche
Biopsien – nicht immer komplikations-
los – und 35 zusätzliche Krebsdiagnosen
erkauft. Die nachfolgende Therapie hätte
nach der Modellrechnung Impotenz in 12,
Harninkontinenz in 2 und Stuhlinkonti-
nenz in einem zusätzlichen Fall zur Fol-
ge. Bei Männern über 70?Jahren verdrei-
facht sich außerdem das Risiko der ope-
rationsbedingten Mortalität. Bei geringer
Effizienz führt das Screening nach dieser
Modellrechnung zu einer deutlichen Ein-
schränkung der Lebensqualität nicht we-
niger Männer, im schlimmsten Fall zum
Tod durch die Operation. Damit hätte
das routinemäßige PSA-Screening mehr
Schaden als Nutzen, insbesondere bei
Männern über 70?Jahren [6].
Diabetes und Krebs
Diabetes erhöht das Risiko, an Brust- und
Darmkrebs zu erkranken, um 23% bzw.
26%, daran zu sterben um 38% bzw. 30%.
Das war das Ergebnis einer Metaanalyse
von 20 Studien mit 1.930.309 Patienten,
die nach 2007 publiziert wurden [7]. Es
war die erste Metaanalyse, die sowohl In-
zidenz als auch Mortalität für die beiden
Krebsentitäten bei Diabetikern berück-
sichtigte und außerdem alle anderen To-
desursachen ausschloss. Es wird vermu-
tet, dass bei übergewichtigen Diabetikern
eine erhöhte Zellproliferation und/oder
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Der Onkologe 1 · 2014
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